Morning Briefing Wenn RTL den Kanzler sucht
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
für einen Sender, der „Bauer sucht Frau“ als Preziose führt, ist ein Format à la „Land sucht Nummer eins“ naheliegend. Also lud RTL gestern Abend zum ersten „Triell“ der deutschen Fernsehgeschichte – was bei weitem nicht so „entscheidend“ für den Ausgang der Bundestagswahl sein dürfte, wie es die Bertelsmann-Dependance vorher behauptete.
Kanzlerduell-Veteran Peter Kloeppel und seine von der ARD ablösefrei transferierte Co-Moderatorin Pinar Atalay integrierten in die übliche Sachthemen-Erkundung auch Gefühlsdusseliges („Was kann er/sie nicht?“, „Was mögen Sie an ihm/ihr?“). Zudem gab es einfache Ja-Nein-Fragen sowie Versuche, als Anwälte des „kleinen Mannes“ aufzutreten.
Das war immerhin ergiebiger als ein US-Präsidenten-Fernsehduell, andererseits natürlich weniger spannungs- und temporeich als das andere „Wer-wird?“-Format im Programm, die Millionärssuche von Günther Jauch. Den würde eine Mehrheit der Deutschen vermutlich direkt zum Kanzler oder Präsidenten wählen, wenn es denn ginge.
Unionskandidat Armin Laschet blieb in der Dreierrunde ein Meister des Allgemeinen. Er changierte zwischen Merkel-Kritik („Afghanistan ist auch ein Desaster der Bundesregierung“), Aufmunterung („Wir waren doch mal stark“) und wiederentdeckter „Rote-Socken“-Kampagne. Wobei er die SPD aufforderte, eine Koalition mit den Linken definitiv auszuschließen. „Ich mach‘ es nicht“, das seien drei, ähem, vier Worte. Warum CSU-Chef Markus Söder hier bei Laschet den „stärksten Auftritt“ sah, wird das Geheimnis seines Twitter-Teams blieben. Der Kandidat aus Aachen pries im Übrigen in einem verrutschten Schlussstatement ein „Team CDU“, ganz so, als gebe es Söder und die Seinen gar nicht.
Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock wiederum spielte konsequent die Rolle der engagierten Angreiferin nach links und rechts, wo an den Pulten ihre männlichen Mitbewerber standen. Sie sprach gerne vom „fetten Problem“ und von „nicht immer wegducken“, machte auch konkrete Vorschläge rund um „Aufbruch“ und „Klimaschutz“, ihre beiden Ohrwürmer. Des Öfteren lag sie dabei so sehr auf einer Wellenlänge mit SPD-Kandidat Olaf Scholz, dass so etwas wie Koalitionskuscheln aufkam.
Der amtierende Finanzminister und Vizekanzler zeigte sich immer wieder von aktuellen Entwicklungen „bedrückt“ und bemühte die drei Begriffe Solidarität, Respekt und Zukunft – das alles in jenem monotonen Macher-Sound, der dem hinterher befragten RTL-Publikum wohl das Gefühl von „Helmut Schmidt reloaded“ gab. 36 Prozent votierten für Scholz, mit klarem Vorsprung vor Annalena Baerbock (30 Prozent), sowie mit 25 Prozent für jenen Mann, der früher einmal wie der sichere neue Kanzler aussah.
Wer mit dem eigenen Pkw lange auf der Autobahn fährt, ist hinterher für Beruhigungstee und Entspannungsmassage reif. Nichts zu sehen von jener „leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur“, die Union und SPD im Koalitionsvertrag 2013 vereinbart hatten.
Tatsächlich machte die Große Koalition in den acht Jahren danach den Weg frei für ungebremste Lkw-Transporte – und „hinterlässt eine Republik im Dauerstau“, wie es in unserer Titelgeschichte heißt. Schiene und Binnenschifffahrt verlieren auch 2021 weiter an Frachtvolumen. Lastkraftwagen hingegen befördern drei Prozent mehr als im Vorjahresvergleich. Bis zu 100 Milliarden Euro jährlich hatten die Verkehrsstillstände schon vor Corona das Land gekostet, in der Brummi-Republik steigt diese Summe weiter an.
Von Verkehrsproblemen handelt auch unser großes Interview in der Sektion „Familienunternehmen“. André Schwämmlein, Mitgründer und Chef von Flixbus und Flixtrain, spricht über seine Expansionspläne – und wie dank Digitalisierung von Schienen, Weichen und Signalen eine bessere Taktung von Zügen zu erreichen sei. Im Einzelnen sagt der 39-jährige studierte Wirtschaftsingenieur über…
- Prestigeprojekte der Bahn: „Man kann schon die Frage stellen, ob Projekte wie Stuttgart 21 oder auch die Schnellstrecke von München nach Berlin, wo je Richtung einmal in der Stunde ein Zug auf einer Milliardentrasse fährt, helfen, Engpässe zu beseitigen.“
- mögliche Reformen: „Ich glaube, dass ein reiner und unabhängiger Netzbetreiber im Gegensatz zu einem Staatskonzern, der auch Züge fährt, anders über seine Investments in das Netz nachdenken würde. Ich an seiner Stelle würde eine Entflechtung von Personen- und Güterverkehr vornehmen. Das Bahnsystem in Deutschland muss smarter, pünktlicher und verbraucherfreundlicher werden.“
- eine einheitliche Buchungs-App: „Der DB-Navigator wird als die Plattform angesehen, die die allumfassende Schienenauskunft gibt. Das liegt natürlich am generischen Namen bahn.de. Bahn ist kein Eigenname. Da ärgert es uns schon, dass sich die Bahn weigert, uns auf ihrer App zu verkaufen. Das geht rechtlich nicht, das Thema gehen wir an.“

Bei solchen Auftritten schwingt die Hoffnung mit, Niccolò Machiavelli möge Recht haben: „Das Glück ist mehr auf der Seite des Angreifers als auf der desjenigen, der sich verteidigt.“
Vor 16 Jahren traf der Hurrikan „Katrina“ auf den Süden der USA, rund 1800 Menschen starben. Nun kündigte sich neues Unheil an. Diesmal heißt der Wirbelsturm „Ida“, er erreichte Louisiana mit 241 Stundenkilometern. Schnell meldete New Orleans Stromausfälle in bis zu 530.000 Haushalten. Die ökonomischen Folgen sind enorm: So drosselten Energiekonzerne die Ölproduktion im Golf von Mexiko um 96 Prozent. Alle elf Bohrinseln wurden evakuiert.
US-Präsident Joe Biden warnt vor einem „lebensbedrohlichen Sturm“, die Zerstörung werde wohl „immens“ sein – und versprach umfassende staatliche Hilfeleistung. Als Negativ-Beispiel hat er George W. Bush im Blick: Der damalige US-Präsident widmete sich 2005 nur zögerlich dem Problem, bald schon kursierte der Begriff „Katrinagate“. Ein „Idagate“ kann sich der durch das Afghanistan-Fiasko angeschlagene Biden derzeit nun wirklich nicht leisten.

Und dann ist da noch das „Sommermärchen“ 2006, jene stimmungsvolle Fußball-WM im eigenen Land, deren Rauschhaftigkeit noch viele Jahre danach Folgeschmerz bereitet. Meine Kollegen lasen sich in einem Report fest, den die Spezialfirma Esecon im Auftrag des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) verfasste und der nun zur Verschlusssache erklärt ist. Danach existieren viele Indizien für einen Stimmenkauf vor der WM-Vergabe nach Deutschland. Es ergibt sich eine Art kollusives Zusammenspiel zwischen dem Sportausrüster Adidas, der Mediengruppe des TV-Rechtehändlers Leo Kirch (1926-2011), dem DFB sowie dem FC Bayern München, der wirtschaftlich sinnfreie Gastspiele in Ländern absolvierte, die zufällig für Deutschland gestimmt hatten.
Der „flankierende Einsatz“ des Rekordmeisters und „damit in Zusammenhang stehende Zahlungen im Bewerbungsfinale wirkten sich vermutlich entscheidend für den Sieg aus“, resümiert der Geheimbericht. Darin wird auch Ex-Adidas-Direktor Fedor Radmann zitiert. Ihm zufolge ging es darum, „möglicherweise dezent, aber effektiv Einfluss in unserem Sinne“ auszuüben. Wir lernen: Es liegt im Wesen der Korruption, dass sie nie so heißen darf.
Ich wünsche Ihnen einen natürlich effektiven Start in die Woche, dezent muss er gar nicht sein.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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