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Gastkommentar Für Deutschlands Neuanfang lohnt ein Blick zurück

Angela Merkel hatte zu Beginn ihrer Kanzlerschaft wegweisende Visionen – das birgt Lehren für die Zukunft, meint Veronika Grimm.
06.10.2021 - 15:16 Uhr Kommentieren
Ehrengast, Illustration, Prof DR. Veronika Grimm im Statistisches Bundesamt in Wiesbaden Quelle: Statistisches Bundesamt, Montage
Veronika Grimm

Ehrengast, Illustration, Prof DR. Veronika Grimm im Statistisches Bundesamt in Wiesbaden

(Foto: Statistisches Bundesamt, Montage)

Düsseldorf Angela Merkel brannte zu Beginn ihrer Kanzlerschaft für die Soziale Marktwirtschaft. Die war für sie mehr als eine Wirtschaftsordnung – sie war Teil eines partizipativen Gesellschaftsmodells, bei dem es auch um Menschenrechte und Menschenwürde ging. 2006 betonte sie, die Soziale Marktwirtschaft müsse sich in einer Welt beweisen, „die wir nicht durch Abschottung gestalten können“.

Das Bewusstsein, nationale Politik immer auch im europäischen und globalen Kontext zu denken, prägte von Beginn an Merkels Reden und auch ihre Politik. Dieser europäische und internationale Blick ist heute wichtiger denn je, im Wahlkampf spielte er eine erschreckend geringe Rolle.

Die vergangenen 16 Jahre haben gezeigt: In einer freiheitlichen Gesellschaft ist es eine ständige Herausforderung, das Vertrauen in die Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft zu erhalten, sodass Wohlstand und soziale Absicherung in Balance bleiben. Die Mechanismen, deren Zusammenspiel dazu führt, dass die Menschen – jeder für sich, aber letztlich vor allem als Gemeinschaft – ihren Wohlstand erarbeiten und auch teilen, sind nicht einfach greifbar.

Die Eindrücke während der Coronakrise, in der die Versicherungsfunktion des Staates dominant war, haben die gesellschaftliche Diskussion noch mal verschoben. Mit zunehmender Komplexität der Herausforderungen sehnen sich immer mehr Menschen nach dem „starken Staat“, der die „richtigen“ Entscheidungen trifft und Probleme „effektiv“ löst. Die Herausforderungen waren vor 16 Jahren zum Teil ähnlich und wurden auch beim Namen genannt: Rente, Globalisierung, Bildungssystem, hohe Schuldenquote, enormes Haushaltsdefizit und Bürokratieabbau.

Forschungspolitik rückte in den Fokus

In den ersten Jahren ihrer Kanzlerschaft trieb Angela Merkel wichtige Reformen voran, die Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit stärkten. Sie setzte sich auch erfolgreich für die Verankerung von Klimazielen auf europäischer und nationaler Ebene ein: 2007 erwirkte sie den Beschluss, die Emissionen bis 2020 gegenüber 1990 auf europäischer Ebene um 20 und in Deutschland um 40 Prozent zu reduzieren. Hinzu kamen Ausbauziele für die erneuerbaren Energien.

2008 gab es eine Reform der Unternehmensbesteuerung, 2009 wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert, ein Signal in Richtung dauerhaft tragfähiger Staatsfinanzen. Außerdem hat Merkel die Forschungs- und Innovationspolitik in den Fokus gerückt. Hier stiegen die öffentlichen Ausgaben von elf Milliarden Euro im Jahr 2005 auf 24 Milliarden Euro 2019.

Nach dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008/2009 rückte die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in den Hintergrund – nicht zuletzt weil Konzessionen an die Koalitionspartner und die Schwesterpartei nötig waren. Rentenleistungen wurden ausgebaut (Rente mit 63, Mütterrente, Grundrente), wodurch immer höhere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt nötig werden. Nach den Beschlüssen zu Emissionsreduktionszielen von 2007 folgten Merkels Regierungen dann viel zu lange den Interessen der Industrie und blockierten europäische Klimaschutzvorstöße.

Mit dem Atom- und dem Kohleausstieg sowie dem Klimaschutzgesetz wurden zwar Gelegenheiten ergriffen, die sich aufgrund von Stimmungslagen ergaben. Die Umsetzung aber orientierte sich zu sehr am „Machbaren“. Ein schlüssiges Gesamtkonzept in der Klimapolitik fehlt bis heute. Außerdem gelang es kaum, die massive Bürokratisierung zurückzufahren.

Einzelmaßnahmen reichen nicht mehr aus

Die Erfahrung zeigt: Je mehr kleinteilige Entscheidungen die Politik trifft, desto stärker versuchen Lobbygruppen und organisierte Einzelinteressen, Einfluss auf unzählige Entscheidungsabläufe zu nehmen. Beugt die Politik sich dem Druck, erodiert im Gegenzug bei vielen Menschen das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft – der Ruf nach weiteren staatlichen Eingriffen wird lauter.

Zu Ende gedacht heißt das: Die bevorstehenden Herausforderungen werden wir mit einer Vielzahl von einzelnen Fördermaßnahmen und Interventionen nicht bewältigen. Gebraucht wird stattdessen ein schlüssiges Gesamtkonzept, das Anreize für nachhaltige Entscheidungen von Menschen und Unternehmen stärkt und so Innovationskräfte mobilisiert. Die Diversität unserer Gesellschaft und die sich daraus ergebende Vielfalt der Menschen und ihrer Ideen sind unsere eigentliche Stärke. Sie bilden die Grundlage für zukunftsfähige Wertschöpfung und ermöglichen es Deutschland, im globalen Wettbewerb der Gesellschaftsmodelle zu bestehen.

Es gilt nun also, eine mutige Vision von Deutschland und seiner Rolle in Europa und der Welt an den Anfang der Koalitionsgespräche zu stellen. Die Programme der möglichen Koalitionspartner enthalten viele gute Vorschläge, die Teile eines Gesamtkonzepts sein könnten, mit dem Deutschland sich neu aufstellt.

Die Ambitionen der Grünen beim Klimaschutz etwa lassen sich überzeugend mit den marktorientierten Ansätzen der FDP zur Senkung von CO2-Emissionen kombinieren. Das Anliegen der SPD einer sozialen Ausgewogenheit der Energiewende kann durch Reformen der Abgaben und Umlagen bei den Energiepreisen – zuallererst der Abschaffung der EEG-Umlage – erreicht werden.

Anpassung des Artenschutzes erforderlich

Mehr Investitionen in Bildung und Stärkung der Chancengerechtigkeit müssen gerade nach den Erfahrungen der Coronapandemie allen Parteien ein Anliegen sein. Das Bestreben der Union, den Industriestandort im Zuge der Transformation zu stärken, geht einher mit dem Anliegen aller Parteien, für zukunftsfähige Arbeitsplätze zu sorgen. Der Ausbau einer kapitalgedeckten Alterssicherung, den FDP und Grüne schon lange fordern, könnte zusätzliches Kapital für Investitionen mobilisieren und zugleich die Menschen am wirtschaftlichen Erfolg beteiligen.

Eine Neuaufstellung Deutschlands muss dem Abbau von Bürokratie sowie einer beschleunigten Projektplanung und -umsetzung durch gestraffte Genehmigungsverfahren höchste Priorität geben. Das gilt etwa für die konsequente Digitalisierung von Verwaltung und Schulen, eine Anpassung des Artenschutzes sowie die Abstandsregeln bei Windkraftanlagen. Hier müssen die Koalitionäre beträchtliches politisches Kapital einbringen.

Wichtige Handlungsfelder liegen auf dem internationalen Parkett. Der deutsche und europäische Gestaltungsspielraum in multilateralen Verhandlungen wird dabei von der eigenen Wettbewerbsfähigkeit, dem europäischen Zusammenhalt und der Attraktivität des europäischen Binnenmarkts abhängen. Europa muss endlich eine eigenständige Rolle auf der geopolitischen Bühne spielen und konkrete Perspektiven für ein gemeinsames Vorgehen, etwa beim Klimaschutz, auf internationaler Ebene entwickeln – mit den USA, aber auch mit China.

Deutschland genießt wegen Merkels kluger Außenpolitik großes Ansehen in der Welt und hat dadurch Gestaltungsspielräume. Die gilt es aufrechtzuerhalten und zu nutzen. In ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit sagte die Kanzlerin im Jahr 2006: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir den Hang haben, das Risiko vor der Chance zu sehen, dass wir aus Angst vor dem Neuen lieber an Bekanntem festhalten. Aber die Welt um uns herum wartet nicht auf uns.“ Das gilt heute mehr denn je.

Die Autorin: Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Mehr: Unternehmer drängen auf politischen Neuanfang

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