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Kommentar – Der ChefökonomDie nächste Regierung erwartet ein Neustart in Fesseln

Wer künftig regiert, muss die Energiewende forcieren, das Sinken des Trendwachstums stoppen und die Sozialkassen stabilisieren. Zudem müssen die Vorgaben der Schuldenbremse erfüllt werden. 21.05.2021 - 08:42 Uhr Artikel anhören

Die Coronakrise belastet das Wirtschaftswachstum. Die zukünftige Bundesregierung wird noch lange damit zu kämpfen haben.

Foto: dpa

Den Sozialversicherungen stehen schwierige Jahre bevor. Spätestens seit den 1980er-Jahren ist bekannt, dass die Gesellschaft ab Mitte dieses Jahrzehnts mit einem zwei Dekaden anhaltenden Alterungsschub konfrontiert sein wird. Dies war der Hintergrund der Sozialreformen der 1990er- und 2000er-Jahre, die darauf abzielten, die umlagefinanzierten Sozialsysteme durch moderate Leistungseinschnitte und eine höhere steuerliche Kofinanzierung zu stabilisieren, um die Finanzierbarkeit in den demografisch schwierigen Jahrzehnten sicherzustellen, ohne die künftigen Beitragszahler zu überfordern.

Diese Bemühungen endeten in dem kräftigen Aufschwung der zurückliegenden Dekade. Die hohen Einnahmeüberschüsse verleiteten die beiden letzten Großen Koalitionen zu teuren und oft klientelspezifischen Leistungsverbesserungen. Zudem wurde Ende 2018 die zunächst bis 2025 geltende „doppelte Haltelinie“ für die Rentenversicherung verabschiedet. Der Beitragssatz soll 20 Prozent nicht übersteigen und das Sicherungsniveau 48 Prozent nicht unterschreiten.

Damals fand dieses Gesetz wenig Beachtung, denn es spiegelte lediglich die Projektionen des Rentenversicherungsberichts wider. Doch was damals bei einer Fortschreibung des Wachstums finanzierbar schien, wird angesichts des absehbar markant sinkenden Trendwachstums bald zum Problem.

Mit dem Corona-Ausbruch verschoben sich die finanzwirtschaftlichen Koordinaten. Die Steuereinnahmen brachen weg, zahlreiche Rettungspakete wurden auf den Weg gebracht, und die Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit explodieren förmlich. Im Krisenjahr 2020 gab die Behörde vor allem wegen der hohen Kurzarbeiterleistungen nahezu doppelt so viel Geld aus wie im Vorjahr, während ihre Beitragseinnahmen um fünf Prozent sanken.

Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen gingen zunächst zurück, weil nicht dringend notwendige Operationen und Arztbesuche aufgeschoben wurden. Dennoch schlossen am Jahresende die Kassen mit einem Fehlbetrag von 2,65 Milliarden Euro und der Gesundheitsfonds mit einem Minus von 3,49 Milliarden ab – nicht zuletzt auch wegen zusätzlicher Ausgaben als Folge mehrerer Leistungsausweitungen, die Gesundheitsminister Jens Spahn auf den Weg gebracht hatte.

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

Foto: Handelsblatt

Wirtschaftsleistung wird dauerhaft niedriger sein

Während die meisten Corona-Hilfen mit dem Pandemieende auslaufen, werden die Steuer- und Beitragseinnahmen noch lange unter den Folgen der Pandemie leiden. Die Wirtschaftsleistung Deutschlands wird infolge der Covid-Rezession dauerhaft niedriger sein, wie aktuelle Regierungsprognosen zeigen. Trotz zweier Jahre mit einem kräftigen Wachstum wird das Bruttoinlandsprodukt 2024 um 65 Milliarden Euro geringer sein als im Januar 2020 erwartet.

Dies hat erhebliche Folgen. So fehlen bei einer Steuerquote von gut 23 Prozent und einer Sozialabgabenquote von gut 18 Prozent im Jahr 2024 als Folge der geringeren Wirtschaftsleistung etwa 15 Milliarden Euro Steuern sowie rund zwölf Milliarden Euro Beiträge – und zwar jährlich. Allein um diese Ausfälle auszugleichen, müssten die Beiträge um etwa einen Dreiviertelprozentpunkt steigen. Die angestrebte Obergrenze von 40 Prozent würde klar gerissen.

Laut aktuellem Rentenversicherungsbericht wird der Beitragssatz von heute 18,6 Prozent im Jahr 2023 auf 19,3 und 2024 auf 19,9 Prozent steigen. Ohne Korrekturen wird 2027 eine Erhöhung auf 20,5 Prozent notwendig, und am Ende des Projektionszeitraums 2033 sollen es 22,3 Prozent sein. Beim System der gesetzlichen Krankenkassen dürfte sich bis dahin ein Defizit von rund 25 Milliarden Euro aufgebaut haben, während der Beitragssatz der sozialen Pflegeversicherung auf etwa 3,5 Prozent gestiegen sein wird – aber nur dann, wenn die von Gesundheitsminister Spahn noch geplante Pflegereform nicht realisiert wird.

Lediglich die Arbeitslosenversicherung sollte angesichts des absehbaren Fachkräftemangels mit ihrem Geld auskommen, da der Bund auf eine Rückzahlung der 2020 und 2021 gewährten Corona-Kredite verzichten will. Eine aktuelle Prognos-Analyse rechnet vor, dass selbst bei optimistischen Wachstumserwartungen die Beiträge bis 2040 auf insgesamt 46 Prozent ansteigen werden.

Wachstum zu generieren wird schwieriger

Die nächste Bundesregierung steht also vor der Wahl, Leistungen der Sozialversicherungen zu kürzen, die Beitragssätze zu erhöhen oder die Steuerzuschüsse dauerhaft kräftig aufzustocken.
Leistungen zu kürzen ist äußerst unpopulär, zumal mindestens eine der jetzigen Regierungsparteien auch die nächste Bundesregierung mittragen wird. Höhere Beiträge schmälern die verfügbaren Lohneinkommen der Wähler und erhöhen die Arbeitskosten.

Zusätzliches Wachstum zu generieren würde damit noch schwerer. Gleiches gilt für Steuererhöhungen. Einer kräftigen Ausweitung der Bundeszuschüsse stehen die Schuldenbremse und die Versprechen nahezu aller Parteien gegenüber, massiv in Energiewende und Dekarbonisierung zu investieren.

Derzeit überbieten sich die Parteien mit Ankündigungen, wie Deutschland dem globalen Klimawandel begegnen und den jüngsten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechen will. Ende April hatte das oberste deutsche Gericht den Klimaschutz im Interesse der nachfolgenden Generationen zu einem vorrangigen Grundrecht gemacht. „Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein“, so die obersten Richter. Zwar genieße der Klimaschutz keinen „unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen“, sondern sei im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Rechten zu bringen. Gleichwohl nehme „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu“.

Der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, leitete daraus ab, dass sich die heutige Mehrheitsgesellschaft zu stark auf Kosten der jüngeren Generation geschont habe. „Das kann man genauso übertragen auf den Sozialstaat. Was wir uns heute an Ansprüchen an den Sozialstaat leisten, muss daher auch die heutige Generation aufbringen.“

Den Königsweg gibt es nicht

Auffallend im Wahlkampf ist, dass keine Partei den offensichtlichen Konflikt zwischen der notwendigen Wachstumsstimulierung, leistungsfähigen und finanzierbaren sozialen Sicherungssystemen sowie der schnellen Dekarbonisierung thematisiert, obgleich dies alles viel Geld kosten wird. Die Parteien des bürgerlichen Lagers drücken sich um Antworten auf die unbequeme Finanzierungsfrage, während die Parteien links der Mitte glauben machen wollen, dass lediglich für einige wenige sehr Wohlhabende und Gutverdienende die Steuerbelastung maßvoll steigen müsse, um den Schutz des Weltklimas mit den wachstumspolitischen Herausforderungen der Bevölkerungsalterung zu versöhnen.

Doch das ist Augenwischerei. Selbst wenn es keine Anpassungsreaktionen gäbe und eine Verdoppelung des Solis zusammen mit einer Vermögensteuer abzüglich der beachtlichen Erhebungskosten 20 Milliarden Euro pro Jahr einbringen würde, reichte dieses Aufkommen noch nicht einmal aus, um die dauerhaften Folgen der Covid-Rezession für die Staatsfinanzen abzudecken. Zusätzliche Mittel zur Bewältigung der Alterung oder zum ökologischen Umbau stünden damit nicht zur Verfügung.

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Einen Königsweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Gesucht ist ein Mix aus moderaten Leistungsrücknahmen im Sozialsystem, einem möglichst aufkommensneutralen und wachstumsorientierten Umbau des Steuersystems, einem Abbau von Subventionen, dem Lockern von bestehenden Beschäftigungsbremsen sowie einer Reform der Schuldenbremse.

Wünschenswert wäre daher, dass die ein oder andere Partei im Falle einer Regierungsbeteiligung ihr Wahlprogramm noch einmal überdenkt. Es ist nicht verwerflich, wenn fulminante Wahlversprechen auf dem Altar der Realität geopfert werden. Denn für Deutschland steht in den kommenden Jahren nicht weniger als der Erhalt des erreichten Wohlstands auf dem Spiel.

Mehr: Bitte keinen Rentenwahlkampf!

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