Bilanz der Merkel-Jahre Immer weniger Beschäftigte arbeiten im Tarifvertrag – Befragte wollen mehr Engagement des Staates

Nur noch rund 18 Prozent der Betriebe im Einzelhandel zahlen Tariflöhne.
Berlin Die Stärkung der Tarifautonomie war Bundeskanzlerin Angela Merkel ein wichtiges Anliegen – zumindest fehlte das Bekenntnis in kaum einer ihrer Reden bei Arbeitgebern und Gewerkschaften. Doch wenn die Regierungschefin nach der Bundestagswahl nach 16 Jahren aus dem Amt scheidet, dann fällt die Bilanz auf diesem Feld für sie ernüchternd aus.
Arbeiteten bei Merkels Regierungsantritt im Jahr 2005 noch 67 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 53 Prozent im Osten in einem Betrieb mit Tarifvertrag, so ist die Quote bis 2020 auf 53 Prozent im Westen und 43 Prozent im Osten gesunken. Und das, obwohl die Große Koalition beispielsweise die Hürden dafür gesenkt hatte, dass die Regierung einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären kann.
Nach Ansicht der Bürger sollte die künftige Bundesregierung mehr dafür tun, den Abwärtstrend zu stoppen. In einer Umfrage im Auftrag der Gewerkschaft Verdi bewerteten 86 Prozent der Befragten die abnehmende Tarifbindung in Deutschland kritisch. Bei den Anhängern der SPD und der Grünen liegt die entsprechende Quote bei über 90 Prozent, bei den Anhängern von Union und Linken bei über 80 Prozent.
Für die Umfrage hat das Meinungsforschungsinstitut Kantar Public Anfang Juli 1038 in einer repräsentativen Zufallsauswahl ermittelte Wahlberechtigte telefonisch befragt. Fast zwei von drei Befragten gaben an, dass der Gesetzgeber eingreifen können sollte, wenn immer mehr Firmen aus der Tarifbindung aussteigen. 31 Prozent sind dagegen der Meinung, dass die Politik den Abschluss von Tarifverträgen allein Arbeitgebern und Gewerkschaften überlassen sollte.
Die meisten Befürworter einer starken Rolle des Staates finden sich mit Abstand bei Anhängern der Linken, gefolgt von Anhängern der SPD und der Grünen. Von den potenziellen FDP-Wählern halten nur 38 Prozent eine stärkere Rolle des Staates für gerechtfertigt.
Eingriffsrecht bei Branchen mit geringer Tarifbindung
Von den Bürgern, die die Politik aus dem Tarifgeschehen heraushalten wollen, spricht sich aber mehr als die Hälfte (55 Prozent) dafür aus, dass der Staat in Ausnahmefällen ein Eingriffsrecht haben sollte. Das gilt etwa für Bereiche und Branchen mit geringer Tarifbindung wie die Pflege oder den Einzelhandel.
Kurz vor Ende der Legislaturperiode hatte die Große Koalition noch ein Gesetz verabschiedet, wonach Pflegekassen ab September 2022 nur noch Altenheime und ambulante Dienste finanzieren dürfen, die nach Tarif zahlen.
Verdi hat die Wähler auch zu ihrer Haltung zum US-Versandhändler Amazon befragen lassen, wo die Gewerkschaft seit Jahren vergeblich für einen Tarifvertrag kämpft. Demnach würden 69 Prozent der Befragten es begrüßen, wenn sie dabei erfolgreich wäre und Amazon einen Tarifvertrag abschließen würde. Nur 29 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass der amerikanische Konzern gute Arbeitsplätze in Deutschland schafft, 61 Prozent glauben das nicht.
Für Verdi-Chef Frank Werneke sind die Ergebnisse der Umfrage ein „klarer Handlungsauftrag an die künftige Bundesregierung“. In ihren Programmen haben sich die Parteien durchaus zum Thema positioniert. So machen sich Linke, SPD, Grüne und auch die Union mit unterschiedlicher Nuancierung dafür stark, dass Tarifverträge künftig noch leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können.

Der Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) sieht in den Ergebnissen einen „Handlungsauftrag an die künftige Bundesregierung“.
Die Politik könnte dann bestimmen, dass Tarifverträge, die die Sozialpartner in einzelnen Bereichen oder Branchen abgeschlossen haben, auch von nicht tarifgebundenen Unternehmen angewendet werden müssen.
Mit der oft beschworenen und von der Verfassung geschützten Tarifautonomie – also der Freiheit, sich Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften anzuschließen oder eben auch nicht – hätte dies allerdings nicht mehr viel zu tun.
SPD, Linke und Grüne wollen sich, sollten sie in Regierungsverantwortung kommen, zudem für ein sogenanntes Bundestariftreuegesetz starkmachen, für das auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wirbt. Tritt es in Kraft, dürfte der Bund nur noch öffentliche Aufträge an Unternehmen vergeben, die ihren Beschäftigten Tariflöhne zahlen.
In den meisten Bundesländern existieren bereits solche Regelungen. Angesichts öffentlicher Aufträge im Volumen von rund 400 Milliarden Euro, die Bund, Länder und Kommunen jährlich vergeben, erhoffen sich die Gewerkschaften eine starke Anreizwirkung, wenn sie nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden.
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70 Prozent der von Kantar Public befragten Wahlberechtigten sind der Ansicht, dass dies eine gute Idee wäre. Auch mehr als die Hälfte der FDP-Anhänger spricht sich dafür aus, dass öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden sollten.
Von den Parteien mit Chance auf eine Regierungsbeteiligung findet sich im Programm der Liberalen am wenigsten zur Tarifbindung. FDP-Chef Christian Lindner hatte aber vor wenigen Tagen bei einer Konferenz des DGB gesagt, die Sozialpartnerschaft und die Mitbestimmung seien ein „Standortfaktor für Deutschland“, weil so beispielsweise der Betriebsfrieden gesichert werde.
Mehr: Die Gewerkschaften müssen sich neu erfinden. Ein Kommentar.
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