Kommentar Der geviertelte Kanzler: Volksparteien erreichen nur ein Viertel der Wählerschaft

Beide beanspruchen das Kanzleramt für sich.
Deutschland hat einen historischen Wahlsonntag erlebt. Die Amtsinhaberin Angela Merkel ist nach 16 Jahren nicht noch einmal angetreten. Das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Als Erbe hinterlässt sie eine vollkommen veränderte politische Landschaft.
Die Volksparteien Union und SPD, die vor der Ära Merkel noch 40 Prozent einfuhren, erreichen jeweils nur noch ein gutes Viertel der Wählerschaft. Über 70 Prozent der Deutschen haben damit nicht mehr die jeweilige Kanzlerpartei gewählt. Egal wer am Ende das Rennen um die Kanzlerschaft macht, Olaf Scholz und Armin Laschet wären geviertelte Kanzler.
Die beiden großen Parteien sind in den letzten zwanzig Jahren inhaltlich und personell ausgelaugt. Es gilt die alte Weisheit des Willy-Brandt-Vertrauten Egon Bahr, dass Große Koalitionen nicht gut für die Demokratie sind. Das erfahren nun die ehemaligen Volksparteien am eigenen Leib. Anstatt sich gegeneinander zu profilieren, wurden Probleme mit großen Stimmenmehrheiten und noch mehr Staatsgeld zugekleistert.
Das Magazin „Economist“ bescheinigt Deutschland in seiner jüngsten Titelgeschichte nicht nur in der Wirtschaftspolitik ein Chaos. Zu viel ist liegen geblieben. Die Deutschen, die eigentlich Stabilität wollen, gaben den Parteien am Sonntagabend eine komplexe Aufgabe mit auf den Weg. Die Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und Armin Laschet müssen jeder für sich versuchen, ein Dreierbündnis zu schmieden.
Eine nochmalige Große Koalition kommt nicht infrage. Eigentlich machen solche Dreierbündnisse das Regieren bestimmt nicht einfacher. Doch es gibt auch die Chance, dass aus der Reibung dreier Partner Wärme oder sogar produktive Hitze entsteht.
Scholz könnte zum tragischen Helden werden
Die letzten Merkel-Jahre bestanden vor allem in Moderieren und Runterkühlen von Themen. Die Wählerinnen und Wähler haben die Parteien zum Teil heftig gerupft, andere wiederum können ihr Glück kaum fassen. In der SPD fürchteten nicht wenige das Schicksal der französischen Sozialisten, die von einer staatstragenden Partei fast in die Bedeutungslosigkeit abgeglitten sind.
Der seriöse Hamburger Olaf Scholz hat immer an seine Chance geglaubt und hielt fast schon stur an seinem Plan fest, die bessere Angela Merkel zu sein. Die Wähler haben ihm das abgenommen, aber auch dank der Schwäche von Armin Laschet und des Einbruchs der Grünen-Chefin Annalena Baerbock.
Dennoch könnte Scholz zum tragischen Helden werden. Es gibt genug Kräfte bei den Grünen, die lieber eine Jamaika-Regierung mit der FDP und der Union eingehen wollen. Die Strategen sehen darin die Chance, die SPD als größte linke Kraft in vier Jahren abzulösen.
Denn hinter Scholz wird die Bundestagsfraktion von dem Jungsozialisten Kevin Kühnert dominiert. Die beiden Wahlsiegerinnen Franziska Giffey in Berlin und Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern stehen für einen SPD-Kurs wie ihn Olaf Scholz am liebsten einschlagen würde.
Aber im Süden der Republik haben die Grünen den Roten schon längst den Rang abgelaufen. Dort regieren sie mit der CDU. Das hätten sie in Bayern auch schon gerne gemacht.
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Der zweite historische Moment dieser Wahl ist das schlechte Abschneiden der Parteienfamilie CDU und CSU. Zwar verantwortete auch die Kanzlerin schon historisch schwache Ergebnisse. Dass der schwarze Balken bei der ersten Prognose am Sonntag um 18 Uhr so in den Keller rauschte, löste allerdings Schockwellen bei den Anwesenden im Konrad-Adenauer-Haus aus.
Berliner Senat muss sich für Wahlchaos verantworten
Die FDP mit Parteichef Christian Lindner ist dagegen so gefragt wie nie. Die negativen Zuschreibungen marktradikal, neoliberal oder kaltherzig, nimmt nicht mal mehr Kühnert in den Mund, wenn er über die Liberalen spricht. Scholz weiß, dass er für eine erfolgreiche Kanzlerschaft die Mitte der Gesellschaft gewinnen muss und da steht die FDP und nicht die an der Wahlurne abgestrafte Linkspartei.
Zumal der rot-rot-grüne Berliner Senat ein nie da gewesenes Wahlchaos verantworten muss. In einigen Wahllokalen gingen die Wahlzettel aus. Laschet und Scholz müssen nun ihre Köder auswerfen. Die SPD wird versuchen, der FDP ein Angebot zu machen, das sie nicht ablehnen kann.
Scholz wirbt mit Vertrauen und dem Versprechen, sich an Absprachen zu halten. Er weiß um das Trauma der FDP, die sich von Merkel hintergangen fühlte. Laschet wiederum muss die Grünen überzeugen, dass sie bei ihm besser aufgehoben sind als bei den Sozialdemokraten.
Sein Balanceakte wird schwieriger sein als der von Scholz. Laschet darf den Grünen nur so viel bieten, dass die FDP nicht abwinkt. Es muss aber so viel sein, dass die Grünen mit ihm und der FDP regieren wollen. Am Ende dieses historischen Tages gilt deshalb: Der Vorhang ist gefallen und alle Fragen sind offen.
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Sehr geehrte Handelsblatt -Redaktion,
wir alle kennen die Geschichte von von dem berühmten Esel, der zwischen 2 duftenden Heuhaufen verhungerte, weil er sich nicht entscheiden konnte. Daraus können auch alle Parteien im Bundestag ihre Lehren ziehen und ihre Strategien anpassen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, dass nur tote Fische mit dem Strom schwimmen.
Mit herzlichen Grüßen
Harald Rasche