Schuldenaufnahme in der EU Kritiker planen Verfassungsbeschwerde: Scheitert der EU-Wiederaufbaufonds?

Im Zuge des Wiederaufbaufonds will die EU eigene Schulden am Kapitalmarkt aufnehmen.
Berlin, Brüssel Wenn sich am Montagmittag die Haushaltspolitiker des Bundestages im Saal 3101 des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses treffen, wird über eine gigantische Summe diskutiert. Bis zu 750 Milliarden Euro will Europa im Kampf gegen die Coronakrise aufbieten. Damit die EU sich erstmals in der Geschichte in diesem Ausmaß verschulden darf, müssen alle Staaten zustimmen.
In der kommenden Woche will der Bundestag das Ratifizierungsgesetz zu dem sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss beschließen. Auftakt der parlamentarischen Beratungen ist die Expertenanhörung im Haushaltsausschuss am Montagmittag. Die Mehrzahl der von den Fraktionen benannten Experten, darunter vor allem Ökonomen und Juristen, unterstützt den EU-Wiederaufbaufonds, wie aus ihren Stellungnahmen ersichtlich wird.
Allerdings gibt es auch Kritiker, die den EU-Wiederaufbaufonds für verfassungswidrig halten. Einige von ihnen wollen vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, wie schon bei den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB). Sind sie erfolgreich, könnte das zu einer ernsten Gefahr für den Wiederaufbaufonds werden. Schließlich braucht es für den Plan der EU, bis zu 750 Milliarden Euro Schulden am Kapitalmarkt aufzunehmen, auch die Bonität Deutschlands, das wie alle anderen EU-Staaten letztlich für die Schulden geradestehen müsste.
Die Regierungsfraktionen beobachten die juristischen Ankündigungen der Kritik genau. So kursiert in Berlin eine Mail des früheren AfD-Frontmanns Bernd Lucke, der eine Verfassungsbeschwerde von Personen aus dem Umfeld des sogenannten Bündnisses Bürgerwille (BBW) ankündigt und für Unterstützung trommelt. Auch andere Juristen und Ökonomen, die nichts mit der AfD zu tun haben wollen, denken über den Gang nach Karlsruhe nach.
„Ich gehe fest davon aus, dass die Sache vor dem Bundesverfassungsgericht landet“, sagt Matthias Herdegen. Der Jura-Professor ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn. Er meint, dass die EU ihre Kompetenzen überschreitet, und spricht von einer „doppelten Verwischung der Verantwortlichkeiten“ auf der Einnahmen- und auf der Ausgabenseite.
Darf sich die EU selbst verschulden?
„Die EU hat keine Verschuldungskompetenz“, sagt Herdegen. Der EU-Haushalt speise sich aus Eigenmitteln, vor allem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten. „Die Kredite, die nun am Kapitalmarkt aufgenommen werden sollen, sind aber Fremdmittel.“
Bundesregierung und EU halten den Wiederaufbaufonds hingegen für unproblematisch und betonen, dass es sich um eine einmalige und begrenzte Hilfsaktion handelt, die angesichts der Jahrhundert-Pandemie gerechtfertigt sei.
Herdegen meint: „Die Beistandsklausel im Artikel 122 des EU-Vertrages ist keine Grundlage dafür, dass sich die EU Geld außerhalb des Haushalts besorgen darf.“ Der Bonner Professor verweist darauf, dass die EU mit dem Fonds nicht nur die akute Krisenbekämpfung finanzieren will, sondern auch Ausgaben für Klimaschutz und Digitalisierung getätigt werden. „Das sind wichtige Aufgaben, aber sie müssen von den Mitgliedstaaten finanziert werden und nicht über Schulden auf EU-Ebene“, sagt er.
Herdegen sieht auch die EU-Schuldenregeln in Gefahr. „Durch den Wiederaufbaufonds werden die Maastricht-Regeln zertrümmert.“ Die Schulden seien den einzelnen Staaten nicht mehr auf ihre Schuldenquote anzurechnen, „das ist ja auch ein Ziel der ganzen Übung“.
Er stört sich insbesondere auch an der Nachschusspflicht. Falls ein Land als Finanzierer für den EU-Haushalt ausfällt, müssten die anderen einspringen. „Die Nachschusspflicht verträgt sich nicht mit der No-Bail-out-Klausel, also der Alleinhaftung der Mitgliedstaaten für ihre Schulden“, meint Herdegen.
Die Mehrheit der Experten, die von den Bundestagsfraktionen eingeladen wurden, hält den Fonds hingegen für ökonomisch geboten und auch verfassungsfest. „Dies ist angesichts der enormen wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Pandemie ein sinnvoller und notwendiger Schritt“, schreibt Lucas Guttenberg, stellvertretender Direktor am Jacques Delors Centre in Berlin, in seiner Stellungnahme.
Mit Blick auf die Bedenken der Kritiker betont er, dass die Wirkung des Eigenmittelbeschlusses „faktisch eng begrenzt“ sei. „Erstens enthält der vorliegende Eigenmittelbeschluss keinerlei Hintertüren für eine Ausweitung oder Verstetigung des Wiederaufbauinstruments“, so Guttenberg. „Zweitens ist durch die vorgesehene Rückzahlung über den EU-Haushalt auch das finanzielle Risiko für einzelne Mitgliedstaaten deutlich eingegrenzt.“
Kritiker Herdegen überzeugt das nicht. „Das Argument, dass es sich um eine einmalige und begrenzte Hilfsaktion handelt, wird von der Bundesregierung selbst entkräftet“, sagte er. „Der Bundesfinanzminister hat öffentlich erklärt, dass es sich um den Einstieg in eine Fiskalunion handelt.“ Tatsächlich hatte Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) gesagt, es handle sich um „vielleicht die größten Veränderungen seit Einführung des Euros“. Auf die gemeinsamen Schulden der EU müssten auch eigene Einnahmen für Brüssel folgen, sagte Scholz.
Angesichts dieser Dimensionen des Beschlusses hatte man auch in der Bundesregierung zeitweise diskutiert, ob es nicht eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag braucht. Schließlich kam man zu der Überzeugung, dass die einfache Mehrheit reicht. Ansonsten wäre man auf die Stimmen von Grünen und FDP angewiesen gewesen. Die Liberalen tun sich schwer mit der Entscheidung. Bis zuletzt gab es Gespräche zum Abstimmungsverhalten in der Fraktion.
Die Nervosität in Brüssel wächst
Die deutsche Debatte wird in Brüssel genau verfolgt. Die Kommission will im Juni damit beginnen, die Anleihen auszugeben, die sie zur Finanzierung des Wiederaufbauplans benötigt. Damit sie den Zeitplan halten kann, darf nicht mehr viel schiefgehen. Erforderlich ist einerseits die Zustimmung aller Regierungen, bisher haben nur elf der 27 Mitgliedstaaten ihr Okay gegeben. Zudem müssen alle EU-Staaten Investitionspläne einreichen, die dann von der EU-Kommission abgesegnet werden müssen. Wenn alles glatt geht, kann im Juli das erste Geld fließen.

Kritiker des EU-Plans planen eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe.
EU-Währungskommissar Paolo Gentiloni betrachtet die europäischen Finanzhilfen als „einmalige Chance, lang bestehende Hindernisse für Wachstum und Investitionen zu beseitigen“. Dem Handelsblatt sagte der Italiener: „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass alle EU-Mitgliedstaaten das Beste aus dieser Gelegenheit machen.“
Die Kommission befindet sich in „intensiven Diskussionen“ mit den Mitgliedstaaten, damit die nationalen Pläne „die richtige Balance von Reformen und Investitionen“ haben und „ambitioniert genug“ sind, um die digital- und klimapolitischen Ziele der EU zu erreichen. „In den kommenden Wochen müssen wir sicherstellen, dass diese Arbeit stark beschleunigt wird, damit noch vor dem Sommer eine hohe Anzahl von Plänen genehmigt werden kann“, betonte Gentiloni.
Brüssel und Berlin hatten in den vergangenen Wochen einige Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den deutschen Reformplan. Mittlerweile ist der Dissens so gut wie ausgeräumt. Die Gespräche mit der Europäischen Kommission „stehen kurz vor dem Abschluss und die Zielrichtung und die wesentlichen Bestandteile des deutschen Aufbau- und Resilienzplans werden durch die Europäische Kommission unterstützt“, heißt es in einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums an den Bundestag, das dem Handelsblatt vorliegt.
Jedes Mitgliedsland muss zur Auszahlung der Gelder der EU-Kommission einen Reformplan vorlegen. Dieser orientiert sich an den jährlichen Wirtschaftsempfehlungen der Brüsseler Behörde. Die EU-Kommission hatte sich zunächst sehr unzufrieden mit dem deutschen Reformplan gezeigt, den das Bundeskabinett vergangenen Dezember verabschiedet hatte.
Ein Knackpunkt ist die Riesterrente
Brüssel war der Reformplan Deutschlands nicht ambitioniert genug, es gebe viele Subventionen, aber wenig Reformen. „Die EU-Kommission hat ihre Forderungen aber zurückgeschraubt und eingesehen, im Wahlkampfjahr nicht hochtrabende Reformen von Deutschland einfordern zu können“, sagte ein Regierungsvertreter.
Zuletzt hakte es nach Handelsblatt-Informationen nur noch an kleineren Punkten. So fordert die EU-Kommission die Bundesregierung auf, konkrete Vereinbarungen mit den Bundesländern für einen besseren Abfluss von Investitionsmitteln zu vereinbaren. Seit Jahren fließen Milliarden an Investitionsmitteln aus den öffentlichen Haushalten wegen Engpässen in der Verwaltung nicht ab. Am schwierigsten gestaltet sich laut Regierungskreisen das Thema Riesterrente, das die Bundesregierung in dieser Wahlperiode verschleppt hat.
Auch in dem Papier heißt es, „die Europäische Kommission wünscht, dass auf Herausforderungen im Bereich des Rentensystems eingegangen wird, um auch an diesen Punkt der länderspezifischen Empfehlungen anzuknüpfen“. Allerdings zeichnet sich auch hier eine Lösung ab.
Der Bonner Jurist Herdegen dürfte seine Kritik durch solche Vorgänge bestätigt sehen. Wenn die EU kontrolliere, welche Auflagen Länder im Gegenzug für die Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds einhalten müssen, werde sich die Brüsseler Kommission über die Jahre auch personell „als europäische Finanzregierung ausbauen“, meint Herdegen. So werde die EU „zur Verteilungsmacht Europas“.
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Für mich ist Bernd Lucke auch kein Nazi und war er von Anfang an nicht.
In erster Linie ging es ihm um Falschentwicklungen in der EU und die Interessen Deutschlands.
Leider hat Frau Merkel und Co ihre Amtseide nicht gelesen.
An die Grundlagenverträge bei der Gründung der EU und den ersten Jahren kann sich offensichtlich auch keiner mehr erinnern, geschweige denn an der Umsetzung ernsthaft und erfolgreich arbeiten.
Es macht den Eindruck, eine teilweise undemokratische Kungelveranstaltung zu sein und wir sind die Hauptzahler. Kein Wunder, dass das Durchschnittsvermögen eines Italieners und Griechen mehr als doppelt so hoch ist als bei uns in Deutschland.
Es kann nicht sein, dass wir zu Lasten unserer Bürger und Unternehmen die fast höchste Steuer- und Abgabenbelastung haben und ein großer Teil der Überschüsse in die EU u.ä. Organisationen abfließen.
Ich unterstütze diese Verfassungsbeschwerde gerne auch in jeder notwendigen Form. Kümmere mich, wohin man sich melden muß.
Alleine schon die Tatsache, dass nunmehr Frau v.d. Leyen ohne demokratische Legitimation EU-Chefin mit dieser mageren Erfolgsgeschichte geworden ist, macht mich traurig und ärgerlich oder besser ruft eine tiefe Empörung hervor.
Das alles ist in keiner Weise demokratisch legetimiert. Bei der Einführung des Euros haben die Politiker uns etwas versprochen. Dürfen Sie Haus und Hof verspielen?
Der "frühere AfD-Frontmann Bernd Lucke" ist bei der Partei LKR. Es ist absolut unangebracht, ihn zwischen den Zeilen als Nazi darzustellen.
Ich wünsche Ihm und seinen Kollegen viel Erfolg. Die Einführung der Schuldenunion durch die Hintertür wäre der wirtschaftliche Kahlschlag für Deutschland.
Die "JA-SAGER" sitzen in Berlin. Hoffentlich treten viele den Klagen gegen soviel Unrecht bei.
Früher war dieses eine Selbstverständlichkeit für Gauweiler und auch für die FDP!
Leider wissen aber viele, zu viele, wie man Spendengelder oder Provisionen kassiert.
the stupid german
Für das Handelblatt ist Prof. Dr. Bernd Lucke, VWL Professor an der Uni Hamburg, 8 Jahre nach Gründung der AfD und 6 Jahre nach Austritt aus selbiger, noch immer der frühere AfD-Frontmann. Man darf hoffen, dass die Wahrnehmung in anderen Themen ein bisschen aktueller ist. Aber wahrscheinlich steht bei Herrn Lucke die eigene politische Gesinnung im Weg. Schade